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Ein uraltes Ritual soll Blockaden lösen und Selbstheilungskräfte fördern – und etabliert sich nun als Wellness-Trend. Was steckt dahinter? Unsere Autorin wagt den Selbsttest
Schamanismus ist heute Teil der Wellness-Kultur. Was es wirklich bringt, hat unsere Autorin getestet
Ohne zu blinzeln, fixiert er mich mit seinem Blick, bevor er dann erklärt, dass ich wohl aufgrund meines Gedankenkarussells ständig erschöpft sei. Dann spricht Pati Mete, der Schamane, den ich hier auf der indonesischen Insel Sumba besuche, ein paar Beschwörungsformeln aus, malt ein Kreuz auf meine Stirn und trägt eine Flüssigkeit auf meine Finger- und Zehenspitzen auf. Das soll meine negativen Gedanken vertreiben und verhindern, dass sie wiederkehren. Zugegeben: Ich bin skeptisch.
Sind schamanische Praktiken die neue Lösung für gesundheitliche Probleme?
Was nach dem Empfinden einer westlich sozialisierten Person sehr esoterisch klingt, ist eine alte schamanische Heiltechnik, die ich während meines Aufenthalts im vollständig von Schaman:innen geführten Hotel „Cap Karoso“ auf Sumba erfuhr. Mich trieb meine journalistische Neugier dazu, die unkonventionelle Praktik kennenzulernen, denn das Thema ist gerade omnipräsent. „Tausende von Menschen in den USA und anderen Orten der Welt haben die Praxis wieder aufgenommen und in ihren Alltag integriert – vor allem diejenigen, die nach neuen Lösungen für ihre gesundheitlichen Probleme suchen, seien sie körperlicher, geistiger oder emotionaler Natur“, erklärte der 2018 verstorbene US-amerikanische Anthropologe Michael Harner, Gründer der Foundation for Shamanic Studies (FSS). Schamanische Retreats, Spas und Behandlungen sowie selbst ausgeführte tägliche Praktiken sind zu einem neuen Bereich im Wellnesssektor avanciert, dem uralte, traditionelle Rituale zugrunde liegen, die überall auf der Welt ausgeführt wurden. Von den Steppen Sibiriens bis hin zu den Prärien der amerikanischen Ureinwohner:innen, von den Bergen der Mongolei bis hin zu den Ländern Mittelamerikas. Um was geht es dabei genau?
Worum geht es beim Schamanismus?
Der Schamanismus ist die älteste, genauer nachweisliche Form religiösen Denkens. Bis heute ist er in zahlreichen Religionen, Ethnien und Kulturen präsent. Anders als in Religionen, bei denen Gottheiten im Zentrum stehen, sind Schaman:innen selbst das Zentrum. Als Vermittelnde zwischen den Welten, zwischen Diesseits und Jenseits, stehen sie im Dienst der Gemeinschaft. Sie heilen Krankheiten und vertreiben böse Geister, begeben sich dafür in Trance und Ekstase. Wissenschaftliche Erklärungen, warum und wie das so vielen Menschen hilft, gibt es bisher nicht, westliche Forschende sind daran bereits seit dem 17. Jahrhundert interessiert.
Der Anthropologe Michael Harner beschrieb den Schamanismus als eine Art spirituelle Ökologie: „In Zeiten der globalen Umweltkrise bietet er ein Element, das den meisten großen anthropozentrischen Religionen fehlt: Ehrfurcht vor anderen Wesen auf der Erde, vor dem Planeten selbst und die spirituelle Kommunikation mit ihnen.“ Da stimmt ihm auch Else Oreve zu, die schamanische Einzelsitzungen, Feiern im Wald und Kurse in Paris organisiert.
a Auch Oreve betont, dass schamanische Rituale zum Ziel haben, „unsere eigene Stärke wiederzufinden, die Energien, die uns durchströmen, besser zu verstehen und unsere Blockaden in unserem Leben, hier und jetzt, zu überwinden“. Die sogenannte „rituelle Ekstase“ war und ist ein wesentliches Element des klassischen Schamanismus, bei der es um eine „Seelenreise in die Welt der Geister“ geht, um dort Kontakt mit ihnen aufzunehmen.
Diese Treatments sollen das Nervensystem wieder ins Gleichgewicht bringen
Es ist aber nicht die einzige Technik des Schamanismus, die heute Anwendung in speziellen Retreats findet. Tenna, die Leiterin des Wellnessbereichs im Hotel „Cap Karoso“, drückt mich gleich nach meiner Ankunft an ihr Herz, um meine Energien zu ermitteln. Meine ersten Behandlungen im Spa, die alle von den Ritualen ihrer Vorfahr:innen inspiriert sind, scheinen auf den ersten Blick nicht besonders außergewöhnlich, quasi Wellnesspraktiken mit schamanischem Twist. Beim „Healing Treatment“ handelt es sich beispielsweise um eine Massage mit Kurkuma, Noni und Weißes-Sandelholz-Öl, das mein Nervensystem wieder ins Gleichgewicht bringen und mich mit dem Planeten und mir selbst verbinden soll. Darauf folgt eine traditionelle sumbanische Massage, bei der eine Mischung aus Kokosnuss, Ingwer und roten Zwiebeln auf meine Haut aufgetragen wird, um meine Verspannungen zu lösen und gleichzeitig negative Schwingungen und böse Geister zu beseitigen.
Das Fazit meiner Reise überrascht mich selbst
Das Highlight des „Cap Karoso“ sind aber die vom Hotel organisierten Einzeltreffen mit echten „Medizinmännern“, die auf unterschiedliche Probleme spezialisiert sind. Der erste, Pati Mete, empfängt mich in seiner traditionellen Hütte in seinem Dorf, um mich einzusalben. Der zweite, Umbu K Lakinuga, behandelt mich auf eine andere Art und Weise: Er reicht mir eine Flasche Wasser mit sieben Reiskörnern darin, die ich vor Sonnenuntergang austrinken soll. Außerdem reibt er eine rote Zwiebel über meinen Kopf, pustet danach auf dieselbe Stelle und abschließend auf meine Ohren. Auch wenn ich nun nicht die spirituellste Person bin und die Wissenschaft noch keine Erklärung dafür gefunden hat, muss ich sagen: Seit ich aus Indonesien abgereist bin, haben mich meine Müdigkeit und meine Angstzustände verlassen – oder sollte ich sagen: Sie sind wie weggepustet?
(Frédérique Verley 1. April 2024)